Dynamische Eigenschaften

4.2 Dynamische Eigenschaften

4.2.1 Atomare Dynamik

4.2.1.1 Die Van Hove-Selbstkorrelationsfunktion Eine Methode zur Beschreibung der translatorischen Bewegung der Atome wurde von Van Hove

1954 [91] angegeben. Die Van Hove-Selbstkorrelationsfunktion

G sα (r, t) =

δ(− → r − |− → r i (t) − − → r i (0)|

N α i=1

gibt die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur an, ein Atom zur Zeit t am Ort r zu finden, wenn sich eben dieses Atom zur Zeit t = 0 am Koordinatenursprung befand. Insbesondere gilt f¨ ur diese Funktion

G sα (r, t)dr = 1

und

(4.18) F¨ ur unser System kann man diese Funktion benutzen, um zu untersuchen, ob bei gegebener

G sα (r, 0) = δ(− → r ).

Temperatur die atomare Bewegung f¨ ur eine (lange) gegebene Zeit als Fließen oder als Hopping einzelner Atome stattfindet. Letztere setzt eine weitgehende Verfestigung der Schmelze voraus, so daß w¨ahrend der betrachteten Zeit eine hinreichend stabile Matrix vorliegt, relativ zu der sich die mobilen Atome bewegen.

Um G sα (r, t) aus der MD-Daten zu ermitteln, verwenden wir die folgende Gleichung

(4.19) wo hn s (r, t, ∆r)i t z die mittlere Zahl der Selbstatome in einer Kugeschale (r, r +∆r) um ein gegebenes

G sα (r, t) =

2 hn s 4πr (r, t, ∆r)i ∆rN α N t z

Atom bei der Zeit t ist. Die Mittelung erfolgt ¨ uber eine Zeitreferenz. Statt G sα (r, t) selbst stellen wir wie die meisten Autoren 4πr 2 G sα (r, t) in den Abbildungen 4.12 und 4.13 dar. Hier werden 4πr 2 G sα (r, t) f¨ ur Temperaturen gezeigt, die in der N¨ahe der kritischen

42 4 Eigenschaften des Systems Temperatur des Systems sind. Aus der Abbildung 4.12 sieht man, daß sich die Bewegung der Zr-

Atome bei T = 10 K f¨ ur 0,5 ≤ r ≤ 1, 5 ˚ ur die Zeiten im Bereich 12,5 ≤ t ≤ 250 ps verlangsamt. A f¨ Diese Verlangsamung wird deutlich bei T = 1000 K f¨ ur die Zeiten in Bereich 12,5 ≤ t ≤ 625 ps gesehen (Vergleichen wir zwischen dem Verlauf bei T = 10 K f¨ ur t = 62,5 ps und dem bei T = 1000 K f¨ ur t = 625 ps, k¨onnen wir diese Verlangsamungsprozesse deutlicher sehen.). Wir bemerken, daß diese Verlangsamung f¨ ur kleine Abst¨ande stattfindet. Das bedeutet, daß die Zr-Atome sich in unserem System f¨ ur den oben gennanten Zeitbereich noch in einem K¨afig befinden. F¨ ur l¨angere Zeiten k¨onnen die Zr-Atome den K¨afig verlassen.

Aus der Abbildung 4.12 sieht man auch, daß die Bewegung der Zr-Atome bei Temperaturen von 10 K, 1000 K und 950 K f¨ ur l¨angere Zeiten noch Fließen entspricht. Diese fließenden Bewegungen erreichen nach l¨angerer Zeit die hydrodynamische Grenze, d.h., die Verteilung geht nach hinreichen- der Zeit ¨ uber in eine Gaußverteilung. Eine Gaußverteilung ist ein typischer Verlauf der Van-Hove Funktion einer Fl¨ ussigkeit, insbesonderer f¨ ur Matrix-Atome in einem bin¨aren System. Das bedeutet, daß auch im Subsystem der Zr-Atome noch ein merklicher homogener Materietransport stattfinden. Bei T = 900 K gibt es f¨ ur t = 28,75 ns einen interessanten Teilverlauf, das Auftreten eines zweiten Maximum bei r ≈ 3, 25 ˚

A. Die Existenz dieses zweiten Maximum k¨onnen wir so interpretieren, daß bei den Zr-Atomen thermisch aktivierte Hoppingprozesse stattfinden, bei denen z.B. ein Atom zu der Position springt, die fr¨ uher von anderen Atomen bei t = 0 besetzt wurden.

Der 4πr 2 G sα (r, t) Verlauf f¨ ur Ni-Atome ist anders. Wie die Abbildung 4.13 zeigt, finden Hop- pingprozesse schon f¨ ur k¨ urzere Zeiten und h¨ohere Temperaturen statt. Diese Prozesse werden durch die Existenz eines zweiten Maximum bei r ≈ 3, 5 ˚ A gekennzeichnet. Die, im Vergleich zu den Zr- Atomen f¨ ur k¨ urzere Zeiten und h¨ohere Temperaturen, stattfindenden Hoppingprozesse der Ni-Atome sind verst¨andlich, da die Ni-Atome leichter und beweglicher als die Zr-Atome sind, wie man an der gr¨oßeren Diffusionkonstante der Ni-Atome im Vergleich zu der der Zr-Atome sehen kann (s.u. Abb.4.22).

Die r¨aumliche Fouriertransformierte der Van Hove-Korrelationsfunktion:

(4.20) wird als intermedi¨are Streufunktion bezeichnet, weil sie eng mit dem winkel- und zeitabh¨angigen Wir-

Φ s (− → q , t) =

G q ·− (r, t)e → −i− → α r sα d− → r

kungsquerschnitt f¨ ur die inkoh¨arente Neutronenstreuung zusammenh¨angt. Wie f¨ ur die Gleichungen

4.2 Dynamische Eigenschaften 43

12,5 ps

12,5 ps

40 10 K

62,5 ps

1000 K

62,5 ps

125,0 ps

125,0 ps

250,0 ps

30 250,0 ps 30

625,0 ps

625,0 ps

1,25 ns

1,25 ns

2,50 ns

3,75 ns 5,00 ns

) ( r,t

2 G 50

250,0 ps

250,0 ps

950 K 2,50 ns 900 K

40 1,25 ns

2,50 ns

10,00 ns

5,00 ns

20,00 ns

30 7,50 ns

25,00 ns

10,00 ns

28,75 ns

20 12,50 ns

r (Angstrom)

Abb. 4.12. 4πr 2 G s (r, t) f¨ ur Zr bei verschiedenen Temperaturen.

44 4 Eigenschaften des Systems

12,5 ps

12,5 ps

10 K

62,5 ps

1000 K

62,5 ps

125,0 ps

125,0 ps

250,0 ps

250,0 ps

625,0 ps

625,0 ps

20 1,25 ns

1,25 ns

) ( r,t

2 G 40

4 250,0 ps

250,0 ps

950 K

1,25 ns

900 K

1,25 ns

30 2,50 ns

2,50 ns

3,75 ns

3,75 ns

5,00 ns

5,00 ns

12,50 ns

25,00 ns

r (Angstrom)

Abb. 4.13. 4πr 2 G s (r, t) f¨ ur Ni bei verschiedenen Temperaturen.

4.2 Dynamische Eigenschaften 45

q1

q,t (

Φ Ni

q15

0.2 Ni 1500 K

t (s)

Abb. 4.14. Inkoh¨arente Streufunktion Φ s Ni (q, t) bei 1500 K f¨ ur verschiedene q-Werte.

q1

q,t (

Φ Zr

q15

0.2 Zr 1500 K

t (s)

Abb. 4.15. Wie in Abb.(4.14) aber f¨ ur Zr.

46 4 Eigenschaften des Systems

) ,t 0.6 9 q (

Ni 0.4

t (s)

Abb. 4.16. Inkoh¨arente Streufunktion Φ s Ni (q 9 , t), von Kurzzeit-Simulationen (+++) und von Langzeit- Simulationen (Diamanten) f¨ ur verschiedenen Temperaturen v.l.n.r: 1500 K, 1400 K, 1300 K, 1200 K, 10 K, 1000 K, 950 K, 900 K und 800 K.

) ,t 0.6 9 q (

Zr 0.4

t (s)

Abb. 4.17. Wie in Abb.(4.16) aber f¨ ur Zr.

4.2 Dynamische Eigenschaften 47 (4.9) und (4.15) gilt auch f¨ ur diese Funktion

Die Abbildungen (4.14)-(4.17) zeigen die inkoh¨arente Streufunktionen Φ s α (q, t), die nach Gl.(4.21) berechnet werden. Aus den Abbildungen (4.14) und (4.15) sieht man, daß die inkoh¨arente Streu- funktion Φ s α (q, t) mit der Abnahme der q-Werte ( q n = 2πn/L, n = 1, 2,..., 15) bei T = 1500 K langsamer zerf¨allt. Der Zerfall von Φ s α (q, t) f¨ ur Ni-Atome ist schneller im Vergleich zu dem f¨ ur Zr- Atome. Bei dieser Temperatur sieht man keine deutlichen Plateaus. Dies ist verst¨andlich, da unser System sich noch in der Schmelze befindet und die strukturellen Korrelationen durch Fließprozesse rasch zerfallen.

Der Verlauf der inkoh¨arenten Streufunktionen Φ s α (q, t) zeigt bei niedrigeren Temperaturen bei q 9 (dies entspricht der Maximum-Position des totalen Strukturfaktors) deutlich ein Plateau, wie man in den Abbildungen (4.16)und (4.17) sieht. Der Plateau-Bereich vergr¨oßert sich mit Abnahme der Temperatur. Die Korrelationen zerfallen schließlich nach langer Zeit wegen der noch stattfindenden Diffusionsvorg¨ange. Die Existenz der Plateaus deutet an, daß die inkoh¨arenten Streufunktionen Φ s α (q, t) mit Abnahme der Temperatur langsamer zerfallen. Die q-Abh¨angigkeit der Plateaus kann man im Fall der v¨ollig inkoh¨arenten Streufunktionen bei Mutiara [4] sehen. Dort wurde gefunden, daß die Plateaus der v¨ollig inkoh¨arenten Streufunktionen sich mit Abnahme der q -Werte erh¨ohen und die H¨ohe des Plateaus vom q-Wert stark abh¨angt.

Einen interessanten Verlauf sieht man bei Temperaturen von 800 K und 900 K. Bei diesen Temperaturen ist der Abfall nach den Plateaus steiler. Dies k¨onnen wir als Folge der Alterungseffekte interpretieren, die auftreten, wenn ein System sich im metastabilen Zustand befindet [92]. Dieser metastabile Zustand sollte vorliegen, wenn ein System von der Schmelze zum Glasszustand ¨ ubergeht oder sich in der N¨ahe der Glastemperatur befindet.

Bei Streuexperimenten mißt man f¨ ur gew¨ohnlich nicht die Funktion Φ s α (− → q , t) selbst, sondern deren Spektraldichte

α (q, ω) =

Φ s (q, t)e −iωt α dt.

Statt nur die Spektraldichte S s α (q, ω) zu berechnen, berechnen wir in Kapitel 5 die dynamische Suszeptibilit¨at χ(q, ω), die eine proportionale Beziehung zu der Spektraldichte S s α (q, ω) hat.

48 4 Eigenschaften des Systems

4.2.1.2 Die Geschwindigkeits-Autokorrelationsfunktion und das Mittlere Verschiebungsquadrat

Eine andere Funktion zur Beschreibung des regul¨aren Anteils der translatorischen Bewegung ist die normierte Geschwindigkeits-Autokorrelationfunktion (sog. VACF), die durch folgende Beziehung definiert wird

hv α (t) · v α (0)i

ψ α (t) =

hv α (0) · v α (0)i

wo hv α (0) · v α (0)i = 3k B T /M α die thermische Geschwindigkeit der α-Komponente ist. Die Mittelung erfolgt ¨ uber alle Teilchen und Auswertungen zu verschiedenen Zeiten. Durch die Fouriertransfomierte der normierten Geschwindigkeits-Autokorrelationsfunktion erh¨alt man die sogenannte Spektraldichte

α (t)e

die durch Experimente ermittelt werden kann. Die Abbildungen (4.18) und (4.19) zeigen unsere Ergebnisse der VACF und ihre Spektraldichte f¨ ur Ni- und Zr-Atome. Man sieht, daß eine schwache R¨ uckstreuung bei t ≈ 125 fs und nachfolgen-

de Oszilationen in unserem System beobachtet werden. Dieser Verlauf ist das typische Verhalten eines amorphen Systems. Der Verlauf von ψ α (t) geht sehr rasch gegen Null. Die Geschwindigkei- ten der Atome werden sehr rasch regellos, d.h., die Atome ver¨andern ihre Bewegungsrichtung und -Geschwindigkeit infolge der fluktuierenden Kr¨afte oder St¨oße von ihren Nachbaratomen, so daß das Produk v(t) · v(0) im Mittel rasch gegen Null geht. Da sich aber in unserem System jedes Atom in einem K¨afig aus Nachbaratomen befindet, kommt es nach einiger Zeit zu einer Umkehrung der Be- wegungsrichtung, einem Zur¨ uckprallen. Dies ist die Bedeutung des negativen Teils der ψ α (t)-Kurve. Nach und Nach geht jeder Zusammenhang mit der urspr¨ unglichen Bewegung verloren, und ψ α (t) geht endg¨ ultig gegen Null. Aus den Abbildungen sieht man auch, daß die Tiefe des ersten Minin- ums von den Temperaturen nur schwach abh¨angt. Das erste Mininum f¨ ur Zr-Atome ist tiefer als das f¨ ur Ni-Atome. Die nach dem ersten Minimum auftretende Verminderung der Schwankungen f¨ ur Zr-Atome ist langsamer als die f¨ ur Ni-Atome.

Die Spektraldichten f¨ ur die beiden Atome unterscheiden sich deutlich. Die Breite der Spektral- dichte f¨ ur Ni-Atome ist ein bißchen gr¨oßer als die f¨ ur Zr-Atome. Dies wird durch die Differenz in

4.2 Dynamische Eigenschaften 49 1

t (fs)

t (fs)

h ω /2 π (meV)

h ω /2 π (meV)

Abb. 4.18. ψ(t) und ψ(ω) f¨ ur Ni (rechte Seite: Vergr¨oßerung der linken Seite) (Linien) 1400 K, (Punkte) 1200 K, (kurze gestrichelte Linien) 1000 K, und (lange gestrichelte Linien ) 800 K.

t (fs)

t (fs)

h ω /2 π (meV)

h ω /2 π (meV)

Abb. 4.19. Wie in Abb.(4.18) aber f¨ ur Zr.

50 4 Eigenschaften des Systems Masse und Potential verursacht, d.h., die Atome, die leichter sind und schw¨acher miteinander wesch-

selwirken, haben eine breitere Frequenz-Verteilung. Die Spektraldichte f¨ ur Zr-Atome ist bei ω ≈ 0 niedrieger als die f¨ ur Ni-Atome. Dies deutet an, daß die Diffusion der Ni-Atome gr¨oßer ist als die f¨ ur Zr-Atome. Um die Diffusionkonstante aus der Spektraldichte zu berechnen, benutzen wir die Gl.(4.29).

Die Geschwindigkeits-Autokorrelationfunktion h¨angt eng mit der diffusiven Bewegung der Atome in der Fl¨ ussigkeit zusammen. Insbesondere besteht zwischen dem mittleren Verschiebungsquadrat (MSD)

r 2 1 (t) X = |− → α r iα (t) − − → r iα (0)|

N α i=1

mit: − → r iα (t) = Position des Teilchens i der α-Komponente zur Zeit t

− → r iα (0) = Position des Teilchens i der α-Komponente zur Referenzzeit 0

und der Geschwindigkeits-Autokorrelationfunktion eine einfache Beziehung

r 2 (t) α

2 = 2 hv α (t) · v α (0)i .

dt

Andererseits h¨angt r 2 (t) α mit dem Diffusionskoeffizient D ¨ uber

(4.27) zusammen. Daraus ergibt sich die folgende Beziehung zwischen dem makroskopischen

t→∞ lim r 2 (t) α = 6Dt

Transportskoeffizient (Diffusionskoeffizient) D und der mikroskopischen Geschwindigkeits- Autokorrelationfunktion [66]

hv α (t) · v α (0)i dt

In den Abbildungen (4.20) und (4.21) zeigen wir das mittlere Verschiebungsquadrat f¨ ur die beiden Atomsorten. Der Verlauf der MSD f¨ ur beide Atomsorten ist ¨ahnlich. Die Unterschied der Verl¨aufe f¨ ur die beiden Atomsorten liegt in der H¨ohe und der Steigung der Kurven. Der Kurven steigen schnell

4.2 Dynamische Eigenschaften 51