Sergueef N Greer MA Nelson KE Glonek T.

Osteopathische Medizin

ORIGINALIA

Kranialer rhythmischer Impuls:
Ist die palpierte Rate abhängig von der
Berufserfahrung der Untersucher?
Nicette Sergueef*, Melissa A. Greer, Kenneth E. Nelson, Thomal Glonek

Zusammenfassung
Die hier vorgestellte retrospektive Übersichtsstudie soll Daten zum normalen Frequenzbereich des palpierten kranialen
rhythmischen Impulses (CRI) liefern. Der
CRI einer aus 734 gesunden Personen bestehenden Studienpopulation wurde von
unterschiedlichen Untersuchern ermittelt,
die zwischen einem und 25 Jahren praktische Erfahrung mit kranialer Osteopathie
hatten. Die palpierte CRI-Rate lag insgesamt in einem Frequenzbereich (Mittelwert ± SD) von 6,88 ± 4,45 cpm (cpm =
Zyklen pro Minute; N = 727).
Die Untersucher wurden je nach praktischer Erfahrung in drei Gruppen eingeteilt. In den Gruppen (geringe, mittlere
und langjährige Erfahrung) wurden folgende Werte ermittelt:
• Stufe 1 (1 Jahr Erfahrung):
7,39 ± 4,7 cpm

• Stufe 2 (2 Jahre Erfahrung):
6,46 ± 4,10 cpm
• Stufe 3 (3–25 Jahre Erfahrung):
4,78 ± 2,57 cpm
Die Mittelwerte der in allen Gruppen palpierten CRI-Raten sowie die Standardabweichungen sind umgekehrt proportional
zur Berufserfahrung der Untersucher, d.h.
je erfahrener die Untersucher, desto niedriger die mittlere CRI-Rate und desto geringer die Abweichungen. Aufgrund der Ergebnisse dieser Studien sollte künftig eher
ein CRI-Frequenzbereich von 2–7 cpm anstatt wie bisher von 8–14  cpm angenommen werden.
Fazit: Erfahrene Untersucher palpieren im
Mittel niedrigere CRI-Werte in einem engeren Frequenzbereich.

Schlüsselwörter
Kranium, kraniale Osteopathie, Ausbildung, psychomotorische Fertigkeiten, kra-

*

nialer rhythmischer Impuls, CRI-Rate, primärer respiratorischer Mechanismus

Abstract
This retrospective review study aims to

contribute data regarding the normal range
of the palpated cranial rhythmic impulse
(CRI) rate from a population of 734 healthy
subjects, each determined by a different examiner. Experience levels ranged from 1 to
25 years training/practice in cranial osteopathy. This study reports an overall CRI
rate range (mean ± SD) of 6.88 ± 4.45 cpm
for all subjects (valid N = 727).
The examiner population was subdivided
into three groups based upon the level of
examiner experience. The rates obtained
from each subgroup, from least experienced to most experienced, are as follows:
• Level 1 (one year of experience),
7.39 ± 4.70
• Level 2 (two years of experience),
6.46 ± 4.10
• Level 3 (three-twenty five years of
experience), 4.78 ± 2.57
Both group mean values of the reported palpated CRI rates and their standard deviations
showed an inverse relationship with the level
of examiner experience, i.e., as experience increases, the mean CRI rate and its deviation

decreases. In the light of the findings of this
study, the currently accepted range of the palpated CRI, 8–14 cycles/minute, should be reconsidered to be as low as 2–7 cycles/minute.
Précis: CRI rate means and ranges as assessed by experienced examiners are, respectively, lower and narrower.

Keywords
Cranium, cranial osteopathy, medical education, psychomotor skills, cranial rhythmic impulse, CRI rate, primary respiratory
mechanism

Einführung
Unter dem Paradigma der kranialen
Osteopathie wird eine kontroverse
rhythmische Qualität, der kraniale
rhythmische Impuls (CRI), beschrieben und diskutiert [1–5]. Dem Glossary of Osteopathic Terminology [6]
zufolge ist er definiert als „eine palpierbare rhythmische Fluktuation. Eine Synchronizität mit dem primären
respiratorischen Mechanismus wird
angenommen.“ Dass der CRI umstritten und nur unzureichend verstanden
ist, macht ihn zum Forschungsgegenstand und die Erhärtung seiner normativen Parameter zu einer interessanten Aufgabe.
William G. Sutherland führte im Jahr
1939 das Konzept der kranialen Osteopathie ein. Er sah den primären respiratorischen Mechanismus (PRM)
als Zugang zu einer holistischen Betreuung der Patienten [7]. Er beschrieb den PRM als ein biphasisches,

von der pulmonalen Respiration unabhängiges Phänomen mit einer „inspiratorischen“ und einer „exspiratorischen“ Phase. Interessanterweise wird
in den frühen Beschreibungen des zyklischen PRM weder eine Rate noch
ein normativer Frequenzbereich ausdrücklich erwähnt. Erst in einer Publikation von Woods und Woods aus
dem Jahr 1961, also erhebliche Zeit
nach Sutherlands Tod, ist von einem
kranialen rhythmischen Impuls und
einer postulierten normativen Rate
(10–14 cpm) die Rede [8].
Die Festlegung normativer Parameter
für die Rate des CRI blieb aufgrund
folgender Parameter umstritten:
• Ein anerkanntes objektives Messverfahren fehlt.

Nicette Sergueef D.O. ist Associate Professor für Osteopathische Manipulative Medizin am Chicago College of Osteopathic Medicine der
Midwestern University. Sie bildet Osteopathen in Europa und den USA aus und hat bereits mehrere Artikel und Fachbücher veröffentlicht.
Ihr Buch “Ostéopathie Pédiatrique” auf Französisch bei Elsevier und auch auf Englisch (Cranial Osteopathy for Infants, Children and Adolescents) erschienen.

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12. Jahrg., Heft 4/2011, S. 4–11, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed


Osteopathische Medizin

• Die Natur des Phänomens erscheint
esoterisch.
• Die Ermittlung des CRI durch Palpation ist subjektiv.
• Relativ wenige Forscher haben die
Rate experimentell gemessen.
• Die Anzahl von Versuchspersonen
in vielen der veröffentlichten Studien ist vergleichsweise niedrig.
In anerkannten Lehrbüchern für Osteopathie wird in Übereinstimmung
mit der Untersuchung von Woods und
Woods aus dem Jahr 1961 für die CRIRate ein Bereich von 8–14 cpm angegeben [5, 8–10]. Diese Spanne wird oft
als Standard angeführt, obgleich wiederholt ein weitaus schmalerer Bereich referiert wurde [11–18]. Die bisher veröffentlichten palpierten CRIRaten sowie die in der vorliegenden
Studie ermittelten Werte sind in Tab. 1
dargestellt.
Ziel der hier vorgestellten Studie war
(1) eine Definition der normativen
CRI-Rate und (2) ein Vergleich der
palpierten CRI-Raten, die von unterschiedlich berufserfahrenen Behandlern ermittelt worden waren.


Methoden
Die Studie wurde im Kontext der
Lehrtätigkeit der Erstautorin (NS)
durchgeführt. Sie folgt den gesetzlichen Bestimmungen der Commission
Nationale de l’Informatique et des Libertés (CRIL) und des Übereinkommens von Helsinki. Teilnehmer der
Studiengänge wurden in der Palpation
des CRI unterwiesen und auf ihre
diesbezügliche Fähigkeit überprüft.
An der Studie nahmen klinisch Praktizierende teil (in erster Linie Physiotherapeuten sowie einige Pflegekräfte,
Hebammen und Ärzte, N = 734). Einige waren noch nicht graduierte Studenten der Osteopathie, andere waren
bereits graduiert. In der Mehrzahl studierten sie oder hatten studiert an La
Maison de la Thérapie Manuelle, einer
Ausbildungseinrichtung, die in mehreren europäischen Städten Unterricht
erteilt. Ihr zweijähriger Ausbildungsgang in kranialer Osteopathie umfasst
225  Präsenzunterrichtsstunden, davon 150 Stunden Theorie und 75 Stunden Praxis. Der Unterricht erfolgt im

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Rahmen eines umfassenden osteopathischen Curriculums, normalerweise
nach einem zweijährigen allgemeinen

Studium der Osteopathie.
Die Teilnehmer der Stufe 1 befanden
sich am Ende ihres ersten Ausbildungsjahres in kranialer Osteopathie,
diejenigen der Stufe  2 am Ende des
zweiten Studienjahres. Die Teilnehmer der Stufe 3 hatten das zweijährige
Studienprogramm in kranialer Osteopathie erfolgreich abgeschlossen und
waren in Postgraduiertenkurse für
kraniale Osteopathie eingeschrieben.
Dabei setzte sich die Gesamtzahl der
Studienteilnehmer an den verschiedenen Studienorten und in den Studienjahren wie folgt zusammen:
• Biscarrosse, Frankreich: 60,2 % (aller Eingeschriebenen)
– 2001: Stufe 1: 86
– 2002: Stufe 1: 50, Stufe  2: 32, Stufe 3: 35
– 2003: Stufe 1: 48, Stufe 2: 31
– 2004: Stufe 2: 52
– 2005: Stufe 1: 59, Stufe 2: 49
• Paris, Frankreich: 29,3 %
– 2002: Stufe 1: 42
– 2003: Stufe 1: 15
– 2004: Stufe 1: 74

– 2006: Stufe 1: 58, Stufe 2: 26
• Lyon, Frankreich: 5,2 %
– 2003: Stufe 1: 16
– 2004: Stufe 1:22
• Padua, Italien: 5,3 %
– 2003: Stufe 3: 39.
• Gesamt: Stufe 1: 64  %, Stufe 2:
25, 9%, Stufe 3: 10,1 %.
Die Daten wurden jeweils am Ende
des Kurses erhoben. Der Tageszeitpunkt war unterschiedlich und abhängig vom Stundenplan der einzelnen
Programme. Die Datenerhebung erfolgte im Übungsraum, wobei die Versuchspersonen immer in derselben
Position untersucht wurden, und zwar
in Rückenlage auf dem Untersuchungstisch. Alle Daten wurden von
derselben Person (NS) aufgezeichnet.
Alle Teilnehmer palpierten den CRI
unter den kontrollierten Bedingungen
des Übungsraums (734 gesunde Individuen). Dazu wurden Paare gebildet,
die sich jeweils gegenseitig untersuchten. Auf diese Weise fungierten alle
Teilnehmer einmal als Untersucher
und einmal als Versuchsperson. Während einer Untersuchung und in der


12. Jahrg., Heft 4/2011, S. 4–11, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed

Pause zwischen den beiden Sitzungen
war keinerlei Kommunikation zwischen den Teilnehmenden gestattet.
Die Untersucher wurden gebeten, die
Palpation des CRI mit der klassischen
Hohlhandanlage, zu beginnen [9] und
während einer etwa 2-minütigen Akklimatisierungsphase die Oszillation
zu erspüren. Dann wurde ihnen gesagt, wann sie die Zählung des CRI
beginnen und beenden sollten. Die
Palpationsdauer blieb ihnen unbekannt. Die Teilnehmer wurden lediglich angewiesen, die vollständigen biphasischen CRI-Zyklen zu zählen, die
sie im Erhebungszeitraum palpierten.
Die Zeitnahme erfolgte mit einer
Armbanduhr mit Sekundenzeiger. Die
vorab festgelegte Zeitspanne (3 Minuten für alle Versuche) war nur dem
Versuchsleiter bekannt. Sie basierte
auf Erkenntnissen aus unseren vorangegangenen Arbeiten [18–20], wonach in diesem relativ engen Zeitfenster einerseits genügend CRI wahrgenommen und andererseits Fehler vermieden werden, die bei längeren
Messperioden auftreten könnten.
Nach dem Ende einer Messperiode

ging der Versuchsleiter zu dem betreffenden Untersucher und ließ ihn kommentarlos die gemessene Rate auf ein
Stück Papier auf einer Papierrolle notieren. Dieser Papierstreifen wurde
dann von der Rolle abgerissen und in
einen Umschlag gesteckt.
Jeder Untersucher behielt für sich, wie
viele Zyklen er vermerkt hatte. Somit
wussten die Palpierenden nicht, welche
Raten die anderen Teilnehmer angegeben hatten. Der Versuchsleiter wiederholte diesen Vorgang dann beim
nächsten Untersucher, bis alle ermittelten Werte notiert waren. Anschließend
tauschten die Studienteilnehmer die
Rollen, und der gesamte Ablauf wurde
wiederholt. Die zu Papier gebrachten
Zahlen wurden in eine Tabelle übertragen, auf der die Versuchsgruppe und
der Ort der Erhebung vermerkt waren.
Die CRI-Raten wurden in Zyklen pro
Minute umgerechnet.

Statistische Analyse
Für die Analyse wurden die palpierenden Teilnehmer in drei Gruppen


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Abb. 1: Frequenzhistogramm für die CRI-Raten. Jeder Balken
entspricht einem CRI-Bereich von 1,38 Zyklen/Minute (cpm).
Die Frequenz ist gleich der Anzahl der 727 Teilnehmer in einem
gegebenen Bereich (Mittelwert ± SD = 6,882 ± 4,446; N = 727).
Die durchgezogene Linie zeigt die aus dem Histogramm abgeleitete Kurve der Standardabweichung (SD) an. Beachte: Infolge der
Schiefheit der CRI-Daten ist die Normalverteilungskurve in der
Abbildung links abgeschnitten, da eine Rate