Gewerkschaftstradition praxeologisch

2.9 Gewerkschaftstradition praxeologisch

Otto positioniert sich in der Diskussion gegenüber Karl und den anderen als eine Art ›praktischer Realist‹, wenn er einfordert, die Dinge so darzustellen, wie sie sind, Erfolge nicht über zu bewerten und immer auch die begünstigenden Fak- toren zu benennen. Er verfügt über eine ungewöhnlich reflektierte Sichtweise und gleichzeitig über das nötige Wissen, um die betrieblichen Erfolge der Be- triebsratsarbeit in den richtigen Kontext setzen und damit kritisch hinterfragen zu können, wobei ihm als Messlatte die betriebliche Realität und die Wahrnehmung der Kollegen „unten“ in der Produktion dienen.

Otto beobachtet mit Besorgnis, dass heutzutage die Frage, ob man in die Gewerkschaft eintritt, zunehmend unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet wird. Für ihn war das - jedenfalls aus seiner heutigen Sicht – damals überhaupt kein Kriterium: „Früher habe ich das aus der Entscheidung gemacht, ob ich‹s will oder ob ich‹s nicht will“. Er nimmt zwar für diese Aussage eine eher frag- würdige Allgemeingültigkeit in Anspruch, spricht aber zuerst von sich selbst. Für ihn persönlich war es – obwohl er diesen Begriff verwendet – eben keine „Entscheidung“, dass er in die Gewerkschaft eintrat, sondern es war die logische Konsequenz der entsprechenden Dispositionen seines Habitus, also ein doxisches Handeln, das letztlich präreflexiv zustande kam. Es war logische Konsequenz aus seiner persönlichen inkorporierten Geschichte, insofern gab es hier für ihn nichts zu ›entscheiden‹. In dem Moment, in dem klar war, dass er seine Ausbildung in der Firma macht, war auch klar, dass er Mitglied der IG Metall werden würde. Selbstverständlich war ihm der finanzielle Aspekt dabei bewusst. Er spielte aber im Verhältnis zum für ihn ungleich wichtigeren „Wollen“ aber keine Rolle. Von Otto beobachtet mit Besorgnis, dass heutzutage die Frage, ob man in die Gewerkschaft eintritt, zunehmend unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet wird. Für ihn war das - jedenfalls aus seiner heutigen Sicht – damals überhaupt kein Kriterium: „Früher habe ich das aus der Entscheidung gemacht, ob ich‹s will oder ob ich‹s nicht will“. Er nimmt zwar für diese Aussage eine eher frag- würdige Allgemeingültigkeit in Anspruch, spricht aber zuerst von sich selbst. Für ihn persönlich war es – obwohl er diesen Begriff verwendet – eben keine „Entscheidung“, dass er in die Gewerkschaft eintrat, sondern es war die logische Konsequenz der entsprechenden Dispositionen seines Habitus, also ein doxisches Handeln, das letztlich präreflexiv zustande kam. Es war logische Konsequenz aus seiner persönlichen inkorporierten Geschichte, insofern gab es hier für ihn nichts zu ›entscheiden‹. In dem Moment, in dem klar war, dass er seine Ausbildung in der Firma macht, war auch klar, dass er Mitglied der IG Metall werden würde. Selbstverständlich war ihm der finanzielle Aspekt dabei bewusst. Er spielte aber im Verhältnis zum für ihn ungleich wichtigeren „Wollen“ aber keine Rolle. Von

Die auf diese Weise konstruierte Entscheidung zwischen der Mitgliedschaft in der IG Metall und etwa einigen Litern Benzin mehr im Monat ist aus seiner Sicht ein grundfalsche. Dennoch muss er zur Kenntnis nehmen, dass so gedacht wird, und fordert auch von seinen Betriebsratskollegen ein, sich keine Illusionen zu machen. Anders als für sie früher, beruhe der Entschluss einzutreten, für die meisten heute auf einer Abwägung zwischen finanziellen Gesichtspunkten und persönlicher Überzeugung – und der Trend gehe nach wie vor dahin, dass der Geldaspekt weiter an Bedeutung gewinne. Gleichzeitig stellt sich hier die Frage nach dem Status der Argumente für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft: Wenn der finanzielle Aspekt aus der Sicht der zu Überzeugenden eine Hemmschwelle dar- stellt, die mit Hilfe von Argumenten zu überwinden ist, ist nach den Ursachen zu fragen. Geht es darum, an das „Wollen“, das man als im Habitus der Leute schon vorhanden annimmt, zu appellieren, um ihm mehr Gewicht zu verleihen? Oder soll dieses „Wollen“ erst erzeugt werden, damit es ein Gegengewicht zum Geldargument bilden kann? Letzteres ist wegen der Grundträgheit des Habitus als weitgehend aussichtslos anzusehen. Wer nicht empfänglich ist, den wird man vermutlich nicht in zehn Jahren, mit Sicherheit aber nicht von heute auf mor- gen überzeugen. Nochmals wird deutlich, wie zentral die Ausnahmestellung des Betriebs als einziger größerer, stabiler und Tariflöhne zahlender Betrieb in der

Region ist: Auf Grund dieser spezifischen Situation fällt die Abwägung nach wie vor bei den meisten Beschäftigten im Sinne der Gewerkschaft aus – und das fast unabhängig vom „Wollen“, sondern weil es auch vom utilitaristischen Standpunkt aus noch als rational erscheint, den Preis für die Sicherheit zu zahlen. Klärungs- bedürftig bleibt an dieser Stelle noch, was Otto von den anderen unterscheidet.

Karl und Otto gehören beide dem leistungsorientierten Arbeitermilieu an, unterscheiden sich aber deutlich voneinander. Otto erscheint als eine moderni- sierte Form von Karl, der von Otto immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird. Zwar sind seine gewerkschaftspolitischen Überzeugungen ebenfalls selbstverständliche Doxa, doch legt er seine Auffassung viel konkreter und alltagsnäher dar als der letztlich orthodox argumentierende Karl. Otto lebt die zuvor in der Facharbeitertradition kaum realisierbaren Habitusanteile der Autono- mie bis hin zum Unangepasstsein aus. Dabei ist er, wie es den Anschein hat, im Betrieb voll integriert und anerkannt. Er weist ein starkes Selbstbewusstsein auf und vertritt seinen eigenen Standpunkt, ohne querulatorisch zu sein. Mit seinem Unabhängigkeitsstreben gerät er zwar in Konflikte, auch mit Karl, diese werden aber pragmatisch und alltagstauglich ausgetragen, nie grundsätzlich ideell. Otto legt insgesamt eine sehr ›lebenspraktische‹ Haltung an den Tag.

Gewerkschaftspolitisch ist er auf einer Linie mit Karl. Otto ordnet sich sogar noch deutlicher in die innergewerkschaftlichen Konflikte ein als dieser. Er bestä- tigt den gegen die Verlagerung von „Tarifpolitik in die Betriebe“ gerichteten Kurs in der IG Metall. Er vertritt darüber hinaus ein ›ganzheitliches‹ Gewerkschaftsver- ständnis, indem er dafür eintritt, dass auch die Familie dazu gehört – „Familien mehr berücksichtigen“. Beim Versuch, für sich im Betrieb eine Teilzeitregelung durchzusetzen, sah er sich unter starkem Druck seiner Betriebsratskollegen, das traditionale Familienarrangement mit seiner Frau beizubehalten, konnte sich aber schließlich durchsetzen. Für ihn ist dies keine Frage von mehr Freizeit, sondern von familiärer Arbeitsteilung. Er weist auch in dieser Frage eine praktische und keine ideelle Haltung auf. Otto hat sich mit dieser Verbindung von Arbeit und Familie eine Nische geschaffen. Es ist schließlich auch eine Art der Entlastung, die er im Sinne der von ihm praktizierten Work-Life-Balance nutzt, wenn er vom Amt des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden zurückgetreten ist. Anders als Karl gelingt es Otto, über die Doxa seines Herkunftsmilieus hinauszudenken. Er handelt zwar ebenfalls aus dem präreflexiven Zusammenhang seines Milie- us heraus, präsentiert dabei aber einen kritischen Blick für die praxisrelevanten Handlungszusammenhänge. Dies mag im Vergleich zu Karl mit seinem geringeren Alter und der Modernität seines familiären Umfeldes zu tun haben.