Gewerkschaftstradition orthodox 9
2.8 Gewerkschaftstradition orthodox 9
Zur im Rahmen unserer Gruppendiskussion gestellten Frage der Mitgliedergewin- nung scheint es so, als sehe sich Karl als stellvertretender Betriebsratsvorsitzender in der Pflicht, zuerst Stellung zu beziehen und die ›offizielle Linie‹ des Betriebs- rats darzustellen. Entsprechend ist sein Statement erst einmal recht allgemein. Dabei gibt er offenbar im wesentlichen die Informationen weiter, mit denen er auch argumentiert, wenn er mit den im Betrieb neuen Auszubildenden spricht. Auf die Frage, wie sie im Betrieb die Azubis zum Beitritt bewegen, antwortet er zunächst ganz ›klassisch‹ mit dem Hauptargument „Tarifverträge“. Das kann man als Anzeichen für ein eher traditionelles Selbstverständnis eines Betriebsrats deuten. Allerdings ist nicht zu vernachlässigen, dass die Tarifverträge tatsächlich materiell eine wichtige Rolle spielen, mithin also in der Tat ein zentrales Argu- ment darstellen.
Als zweites Argument spricht Karl von den Freizeitangeboten der Gewerk- schaft für Jugendliche. Einerseits stellt sich die Frage, ob Karl überhaupt weiß, wovon er redet – an einem Pfingstscamp wird er in den letzten Jahren kaum teilgenommen haben, und nach unseren Erkenntnissen passiert im Jugendbereich generell in letzter Zeit nicht viel –, andererseits muss er das auch gar nicht wis- sen, um es als Argument für die IG Metall in die Waagschale werfen zu können. Davon abgesehen ist interessant, dass er diesen Punkt überhaupt erwähnt, denn angesichts der unterstellten ›unpolitischen‹ und ›desinteressierten‹ Haltung der Jugendlichen ist er als Argument nicht selbstverständlich. Eventuell ist für diese Betonung des Freizeitaspekts der Gewerkschaft als Teil der Arbeiterbewegung auch sein eigenes Engagement im Sportverein von Bedeutung, denn auch Sport war Teil der alten Arbeiterbewegung.
Die Beziehung zwischen Mitglied und Gewerkschaft stellt sich in Karls Schil- derung implizit als ein Verhältnis von Geben und Nehmen dar, auf das der Einzel- ne verpflichtet werden kann: Weil man als Auszubildender dank der Gewerkschaft das nicht selbstverständliche Recht hat zu ›nehmen‹ – sprich: Eine im Vergleich zu anderen Betrieben in der Region hohe Ausbildungsvergütung bekommt –, entsteht auch eine moralische Verpflichtung, seinerseits zu ›geben‹, also seinen Mitgliedsbeitrag zu zahlen. Wenn man dieses Verhältnis als einen Tauschhandel denkt – Mitgliedsbeitrag gegen gute Entlohnung und Arbeitsbedingungen –, dann
9 Bei diesem wie auch bei dem nachfolgenden Abschnitt handelt es sich um überarbeitete Proto- kollauszüge aus einer von uns im Anschluss an eine Gruppendiskussion durchgeführten Sequen- zanalyse.
kann dieser Tauschhandel auch Beschäftigten mit einer instrumentellen Haltung der Gewerkschaft gegenüber noch in seiner Rationalität praktisch vermittelt wer- den. Insofern stellt die Situation eine Art Grenzfall dar, in dem das Argument auch bei einem stark utilitaristischen Kalkül des Einzelnen angesichts der Alternative – Beschäftigung weit unter Tarif in anderen Betrieben oder Gefahr des Verlusts der eigenen Ausnahmestellung bei sinkendem Organisationsgrad – noch ›zieht‹. Emphase oder politische Überzeugung spielen dafür also erst einmal keine Rolle. Es wäre allerdings verfehlt, ›Utilitarismus‹ und ›Emphase‹ als Gegensätze dar- zustellen, was an der Person Karls selbst deutlich wird, der beides miteinander praktisch verbindet.
Karl sieht die Gewerkschaft als gesellschaftspolitische Kraft – „mehr Macht demonstrieren“ –, die sich politisch einmischen und auf dem Weg des Dialogs gesellschaftliche Gegenmacht ausüben soll – „Gewerkschaft, die auch versucht, dagegen zu steuern mit Argumenten“. Er spricht sehr abstrakt über die Notwendig- keit sozialpolitischer Veränderungen – „Fünf Millionen mobilisieren für bestimmte Dinge“. Etwas Kritisches zur IG Metall fällt ihm nicht ein. Beinahe scheint es so, als läge gewerkschaftliches Engagement für ihn grundsätzlich jenseits aller Kritik. Er präsentiert sich hier erneut ganz glaubwürdig als ein traditioneller und treuer ›Gewerkschaftssoldat‹. Sein Gewerkschaftsverständnis steht für ihn im Zu- sammenhang mit seinem Alltagsethos als traditionsverwurzelter Arbeiter. Dabei repräsentiert er ein seiner Lebensrealität entsprechendes Alltagsethos, in dem persönlicher Alltag und seine Gewerkschaftsaktivitäten kaum mehr voneinander zu trennen sind. Er lebt diesen Zusammenhang unhinterfragt wie selbstverständ- lich, bekommt aber immer dann Probleme, wenn er es mit Personen zu tun hat, die seiner doxischen Wahrnehmung und Selbstdarstellung deswegen nicht folgen können, weil sie seine Alltagserfahrungen nicht teilen. In solchen Situationen neigt er dazu, von der Doxa zur Orthodoxie überzuwechseln. Hat er das Gefühl, sich erklären zu müssen bzw. Position beziehen zu müssen, weil sein gewohnter Zusammenhang von Alltag und Gewerkschaft wie auch immer in Frage gestellt wird – sei es bei Wahrnehmungen von Inkonsistenzen zwischen Anspruch und Realität, oder sei es bei kritischen Fragen und Anmerkungen zur Gewerkschafts- politik – agiert er ›hölzern‹ und greift auf bekannte gewerkschaftspolitische Stan- dards zurück. Mangels alternativer Ressourcen und Erfahrungen ist er auf diese Standards und Topoi aus zweiter Hand angewiesen, weil er nur mit ihrer Hilfe seine Alltagserfahrungen gegen alle Anfechtungen bestätigen kann.
Weil letztlich die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse über Karls traditio- nalistisches Gewerkschaftsverständnis hinausweisen, läuft er ständig Gefahr, sich Weil letztlich die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse über Karls traditio- nalistisches Gewerkschaftsverständnis hinausweisen, läuft er ständig Gefahr, sich