In der zweiten Reihe
2.7 In der zweiten Reihe
Außerhalb des ›Inneren Kreises‹ der Betriebsräte agiert deren zweite Reihe weit- gehend auf betrieblicher Ebene. Wenn überhaupt, sind diese zumeist nicht freige- stellten Belegschaftsvertreter in gewerkschaftlicher Funktion allenfalls Mitglieder der jeweiligen Delegiertenversammlungen. Der Anteil von Frauen liegt hier bei etwa zehn Prozent und damit geringfügig höher als bei den übrigen Gruppen der Betriebsräte. Unsere Interviewpartner waren im Durchschnitt 45 Jahre alt und damit jünger als die Repräsentanten des ›Inneren Kreises‹. Es handelt sich bei ihnen in der Regel um qualifizierte Facharbeiter in den Metall- und Elektrobe- reichen. Sie haben überwiegend nach ihrem Realschulabschluss in den Betrieben, in denen sie heute noch tätig sind, eine Lehre abgeschlossen und nehmen in den Produktionsbereichen mittlere Leitungsfunktionen wahr. Während die eher Äl- teren zum Teil schon seit den siebziger oder achtziger Jahren Betriebsräte sind, befinden sich die Jüngeren meist in ihrer ersten oder zweiten Amtsperiode. Meh- rere geben an, dass sie ein besonderes Interesse an der Betriebsratsarbeit erst nach ihrer Wahl entwickelt haben: „Ich dachte, entweder werd ich mit reingewählt oder nicht. Ich wurde dann mit reingewählt.“ „Ich wurde gefragt und hab dann gesagt: ›Ja gut, schreibt mich mit drauf auf die Liste.‹“.
Im Unterschied zu den Betriebsräten des ›Inneren Kreises‹ verfügen sie nur selten über ihre betrieblich erworbenen Qualifikationen hinausgehende Bildungs- abschlüsse. Sie sind dagegen als nicht Freigestellte aber weiterhin in die unmit- telbaren Produktionsprozesse verantwortlich eingebunden. Diese über einen aus- geprägten Berufsstolz zum Ausdruck gebrachten fachlichen Kompetenzen, die den freigestellten Betriebsratsvorsitzenden weitgehend verloren gegangen sind, bilden im wesentlichen ihr in den betrieblichen und gewerkschaftlichen Bezie- hungen einsetzbares ›Kapital‹. Sie sind, so sagen sie, „näher dran an den Leuten und Problemen“. Ihr über betriebliche Anerkennung vermitteltes soziales Kapital spiegelt sich für etwa die Hälfte der Gruppe – über die Gewerkschaftsorientierung hinaus – in Funktionen als Vorsitzende oder Aktive in unterschiedlichen Vereinen.
Gleichwohl weisen sie zumeist eine deutliche Distanz zur Parteipolitik auf, weil, wie sie sagen, „die Gewerkschaft meine politische Vertretung ist“. Von dieser erwarten sie, dass sie über die Sicherung der betrieblichen Mitbestimmung hi- naus sich für eine arbeitnehmerorientierte Sozialpolitik einbringt und insbesondere „gegen die ›Rente mit 67‹“ vorgeht. Für sie gehören betriebliches und politisches Mandat ausdrücklich zusammen. So ist es für sie auch eine Selbstverständlich- keit, als Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglied zu sein: „Ein richtiger Arbeiter ist organisiert in der Gewerkschaft. Das ist eigentlich eine Tradition hier, dass man
da, wo man arbeitet, auch organisiert ist, wenn es eine Gewerkschaft gibt.“ Die Entscheidung für oder gegen eine Gewerkschaftsmitgliedschaft stellt sich aus dieser Perspektive denkbar einfach dar: „Entweder ich will’s oder ich will’s nicht.“
Die traditionelle Disposition von der Notwendigkeit der Gewerkschaft ist Teil ihres Habitus, der sich unabhängig unterschiedlicher Erfahrungen bewahrt hat. Dass sie zum Beispiel gesellschaftliche Gegenmacht für nötig halten, be- trachten sie daher als selbstverständlich und nicht weiter begründungsbedürftig: „Da finde ich vieles einfach selbstverständlich, wie sozialpolitische Themen oder Tarifverträge“. Einer berichtet auch davon, dass es vor wenigen Jahrzehnten in seinem Betrieb noch eine absolute Selbstverständlichkeit gewesen sei, dass junge Kollegen in die Gewerkschaft eintraten, was heute nicht mehr der Fall ist. Zu den Grundüberzeugungen dieser Gruppe gehört auch, dass unter den Kollegen im Betrieb solidarisches und kollektives Handeln unabdingbar ist. Auch die An- gestellten, zu denen im Arbeitsalltag aufgrund der unterschiedlichen Tätigkeits- bereiche oft eine Kluft wahrgenommen wird, gehören für sie zu dieser Einheit: „Ich sag mal, das muss beides zusammen spielen.“ Sie sehen die Gewerkschaft als gesellschaftspolitische Kraft, die sich im Sinne der Arbeitnehmerseite politisch einmischen und auf dem Weg des Dialogs gesellschaftliche „Gegenmacht“ ausü- ben soll – „Gewerkschaft, die auch versucht dagegen zu steuern mit Argumenten“. Dazu halten sie es zum Teil für notwendig, dass die IG Metall „mehr Macht demonstriert“. Im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Betriebsführung sind sie dabei keineswegs grundsätzlich „auf Krawall“ eingestellt. Sofern sie dem Management keine offensichtlichen Fehler anlasten können, ist das konkrete Verhältnis durch- aus konsensorientiert – „Gegeneinander würde ich nicht sagen“.
Gegenmacht heißt für sie in erster Linie Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Betrieb: „Man versucht, sich für seine Kollegen mit einzusetzen, weil man ist ja auch selber mit davon betroffen, wenn irgendwas Neues in der Firma anliegt“. Mitbestimmung heißt hier zunächst, „dass man auch seitens der Leute im Blau- mann ein bisschen was hört“. Und die Vorgaben der Betriebsleitung sind für sie Gegenmacht heißt für sie in erster Linie Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Betrieb: „Man versucht, sich für seine Kollegen mit einzusetzen, weil man ist ja auch selber mit davon betroffen, wenn irgendwas Neues in der Firma anliegt“. Mitbestimmung heißt hier zunächst, „dass man auch seitens der Leute im Blau- mann ein bisschen was hört“. Und die Vorgaben der Betriebsleitung sind für sie
Als in den Produktionsbereichen ihrer Unternehmen unmittelbar in die Ar- beitsteilung eingebunden, stellt sich ihnen auch die Beziehung zwischen Mitglied und Gewerkschaft als ein Verhältnis von Geben und Nehmen dar, auf das der Einzelne nach ihrer Ansicht verpflichtet werden kann. Dieses Prinzip der Ge- genseitigkeit bedeutet, dass, wenn man in ihrem Betrieb dank der Gewerkschaft relativ gut gestellt ist, auch eine moralische Verpflichtung besteht, dafür etwas zu tun und mindestens seinen Mitgliedsbeitrag zu zahlen. Diese Haltung führt in Verbindung mit der postulierten Selbstverständlichkeit der Gewerkschaftsmit- gliedschaft jedoch zu Problemen bei der Mitgliedergewinnung, weil sie auf diese Weise Nichtmitglieder als prinzipiell im Unrecht sehen. Dies zeigt sich immer dann, wenn sie Beschäftigte anderer Milieus und aus den Angestelltenbereichen, die ihre Erfahrungen der unmittelbaren Arbeitsteilung nicht teilen, für die Ge- werkschaft gewinnen sollen, jedoch nicht in der Lage sind, sich in deren Situation hinein zu versetzen.
Auch mit veränderten ungleichen Arbeitsbedingungen zunehmender Leihar- beit haben diese Betriebsräte schwer zu kämpfen, auch wenn sie diese Verände- rungen in der industriellen Produktion in den letzten Jahren gut kennen und dar- stellen können. Gemessen an dem traditionellen gewerkschaftlichen Ziel ›Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‹, das bei dieser Gruppe im Selbstverständnis verankert ist, müssten auch Leiharbeiter gleichberechtigt zur Belegschaft gehören und verdienen Auch mit veränderten ungleichen Arbeitsbedingungen zunehmender Leihar- beit haben diese Betriebsräte schwer zu kämpfen, auch wenn sie diese Verände- rungen in der industriellen Produktion in den letzten Jahren gut kennen und dar- stellen können. Gemessen an dem traditionellen gewerkschaftlichen Ziel ›Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‹, das bei dieser Gruppe im Selbstverständnis verankert ist, müssten auch Leiharbeiter gleichberechtigt zur Belegschaft gehören und verdienen
Die Aufgaben, die sie der IG Metall zuweisen, beziehen sich zunächst auf die betriebliche Ebene. Um gegebenenfalls im Konflikt mit dem Arbeitgeber beste- hen zu können, wird die Unterstützung der Hauptamtlichen als selbstverständlich erachtet. Von der IG Metall wird erwartet, dass sie drohende Krisen rechtzeitig erkennt und Aktivitäten dagegen in Gang bringt, bevor es zu spät ist. Für diese Aufgabenzuschreibung ist sicher auch die Erfahrung mit den im eigenen Betrieb mit gewerkschaftlicher Hilfe überstandenen Krisen entscheidend. Die Hauptamt- lichen sollen die Arbeit des Betriebsrats bzw. seiner Führung sachkundig beglei- ten und diesen, wenn notwendig, auch mal zum Handeln antreiben. Neben der Betriebspolitik sehen sie die Tarifpolitik und die Sozialpolitik als Kernaufgaben der Gewerkschaft an. Die Tarifpolitik soll dem Anspruch genügen, zu gewähr- leisten, dass sie ihre gewohnte Lebensweise aufrechterhalten können, um die sie angesichts zunehmender Prekarisierungstendenzen fürchten: „Das Geld plant man irgendwie ein, egal wie gut es einem geht, man plant es ein“. Als wichtigstes In- strument dazu wird der Flächentarif angesehen, der dem grundsätzlichen Schutz der Beschäftigten dient. Dabei ist ihnen auch über den eigenen Betrieb hinaus wichtig, „Wege zu suchen, um auch Arbeitern in Betrieben ohne Betriebsrat zu vernünftigen Löhnen zu verhelfen“. Auch der Einsatz für eine arbeitnehmerfreund- liche Sozialpolitik wird als zentrale und unverzichtbare Aufgabe der Gewerkschaft Die Aufgaben, die sie der IG Metall zuweisen, beziehen sich zunächst auf die betriebliche Ebene. Um gegebenenfalls im Konflikt mit dem Arbeitgeber beste- hen zu können, wird die Unterstützung der Hauptamtlichen als selbstverständlich erachtet. Von der IG Metall wird erwartet, dass sie drohende Krisen rechtzeitig erkennt und Aktivitäten dagegen in Gang bringt, bevor es zu spät ist. Für diese Aufgabenzuschreibung ist sicher auch die Erfahrung mit den im eigenen Betrieb mit gewerkschaftlicher Hilfe überstandenen Krisen entscheidend. Die Hauptamt- lichen sollen die Arbeit des Betriebsrats bzw. seiner Führung sachkundig beglei- ten und diesen, wenn notwendig, auch mal zum Handeln antreiben. Neben der Betriebspolitik sehen sie die Tarifpolitik und die Sozialpolitik als Kernaufgaben der Gewerkschaft an. Die Tarifpolitik soll dem Anspruch genügen, zu gewähr- leisten, dass sie ihre gewohnte Lebensweise aufrechterhalten können, um die sie angesichts zunehmender Prekarisierungstendenzen fürchten: „Das Geld plant man irgendwie ein, egal wie gut es einem geht, man plant es ein“. Als wichtigstes In- strument dazu wird der Flächentarif angesehen, der dem grundsätzlichen Schutz der Beschäftigten dient. Dabei ist ihnen auch über den eigenen Betrieb hinaus wichtig, „Wege zu suchen, um auch Arbeitern in Betrieben ohne Betriebsrat zu vernünftigen Löhnen zu verhelfen“. Auch der Einsatz für eine arbeitnehmerfreund- liche Sozialpolitik wird als zentrale und unverzichtbare Aufgabe der Gewerkschaft
Von den Hauptamtlichen wünschen sich viele aus dieser Gruppe eine inten- sivere Betreuung und mehr direkten Kontakt zur ›Basis‹ – „mehr mit den Kollegen in Verbindung treten“; „Unterstützung bei eventuellen Problemen“. Darin unter- scheiden sie sich durchaus von den Betriebsratsvorsitzenden, insbesondere denen der Peripherie, die in ihrer Beziehung zu den Hauptamtlichen auf Autonomie achten. Dieser Unterschied lässt sich mit Blick auf die Kompetenzen bzw. Res- sourcen und betriebliche Funktion der Betriebsräte der zweiten Reihe verstehen. Diese Gruppe sieht es als ihre Aufgabe an, den Beschäftigten Entscheidungen, wie Tarifverträge, zu vermitteln, fühlt sich damit aber insbesondere bei strittigen The- men persönlich leicht überfordert. Zur Abhilfe hoffen sie auf die Hauptamtlichen, die stärker „persönlich informieren“ bzw. „auch den Arbeiter an der Maschine befragen“ sollen.
Während die westdeutschen Betriebsräte der zweiten Reihe die Arbeit der Hauptamtlichen insgesamt verhalten positiv bewerten – „ganz gut“ –, sind wir in der ostdeutschen Verwaltungsstelle auf das Phänomen gestoßen, dass die Be- triebsräte dieser Gruppe zum Teil eine deutliche Distanz zu den Hauptamtlichen bekunden, die sich in der Forderung nach „Transparenz“ ausdrückt: „Was die Funktionärsebene so treibt, sagen sie uns nicht, eher schon, was sie für die Zukunft gedacht haben.“ Hier zeigen sich zum einen mangelnde Kenntnisse der haupt- amtlichen Arbeit und die Tatsache, dass Ansprechpartner der Hauptamtlichen vor allem der Betriebsratsvorsitzende bzw. sein Stellvertreter ist, nicht aber die Be- triebsräte der zweiten Reihe. So erklären sich auch Äußerungen wie: „Da kommt eigentlich relativ wenig, denk ich mal“, die dem tatsächlichen Engagement der Hauptamtlichen zu widersprechen scheinen. Zum anderen ist auch ein Zusammen- hang mit der Erfahrung der Gewerkschaft als anonymem, nicht beeinflussbaren bürokratischen Apparat zu DDR-Zeiten zu vermuten.