Abseits gewohnter Bahnen
2.10 Abseits gewohnter Bahnen
Betriebsräte abseits gewohnter Bahnen, und in diesem Fall insbesondere Betriebs- rätinnen, finden wir in den sogenannten modernen Dienstleistungsbereichen wie auch, wenn auch seltener, in Betrieben mit einem hohen Anteil hochqualifizierter Beschäftigter. Es handelt sich dabei um Callcenter ebenso wie um High-Tech-Un- ternehmen, in denen die Anzahl der Beschäftigten in Forschung, Entwicklung und Marketing über die der in den produzierenden Bereichen tendenziell hinausrei- cht. So gering die Gewerkschaftsmitgliedschaft in diesen Betrieben häufig ist, so deutlich unterscheiden sich auch die Repräsentanten der betrieblichen Interessen- vertretung von den bisher dargestellten Betriebsräten. Entsprechend der höheren Quote erwerbstätiger Frauen abseits der gewohnten metallverarbeitenden Gewerbe finden wir in diesen Bereichen zunehmend auch Betriebsrätinnen. Biographien und Wege zum Amt des Betriebsrats verlaufen nicht mehr nach dem gewohnten Rekrutierungsmodus, auch sind die Bedingungen und Praktiken der Betriebsrats- arbeit von denen in der traditionellen Metall- und Elektrobranche unterschieden, so dass letztlich auch die Beziehungen zur IG Metall und ihren Hauptamtlichen nicht mehr in den gewohnten Bahnen verlaufen.
Callcenter I
Die in einem Callcenter beschäftigte Inge, 50 Jahre alt, ist seit acht Jahren Be- triebsrätin, in dieser Zeit die letzten vier Jahre freigestellt. Vor ihrer Tätigkeit war sie über längere Zeit arbeitslos. Sie verfügt wie ihre Geschwister und Eltern über das Abitur und hat einen Studienabschluss als Diplom-Bibliothekarin. Nachfol- gend einige ihrer Interviewaussagen:
„Zur Zeit beschäftigt mich, was die Regierung so ausheckt, die Rente mit 67 oder die Gesundheitsreform, und wie sich derartige Gesetze auf den Betrieb aus- wirken. Das öffentliche Ansehen der IG Metall ist besonders schlimm geworden seit dem verlorenen Kampf um die 35-Stunden-Woche von dreieinhalb Jahren da in Sachsen. Das hat auch Gründe, aber um so schwerer hat man das eben heute, überhaupt jemanden zu gewinnen. Bei uns im Callcenter kommt auch dazu, dass wir nicht so viel Geld zur Verfügung haben. Wir haben einen Anteil von Teilzeit- mitarbeitern von über 50 Prozent, und wer bei uns einen 27-Stunden-Vertrag hat, der bekommt 710 Euro brutto auf die Hand. Und der guckt natürlich, der streicht alles weg, was er irgendwo kann. Der wird dann nicht unbedingt als erstes in die Gewerkschaft eintreten. Das ist zwar traurig, aber das ist die harte Situation. Hinzu kommt, dass wir nicht tarifgebunden sind, und die Kolleginnen fragen sich,
„Was bringt mir das?“. Wenn wir dann von Solidarität sprechen, dann merkst du bei uns davon sowieso nichts mehr. Das ist ganz schlimm bei uns, eine Ellbogen- gesellschaft, das ist schon krass. Jeder ist sich selbst der nächste. Sie fragen, was denn die IG Metall für uns mache, zumal Callcenter eigentlich nichts mit der IG Metall zu tun hätten. Die wollen nicht begreifen, dass man sich erst mal selber stark machen muss, ehe die Gewerkschaft was machen kann. [...] Bei uns ist es so, dass wir viele Frauen haben, wo der Mann dann eben Hartz IV-Empfänger ist, und dann ist es schon krass. Die sind dann bemüht, nur ihr Mindestarbeitszeit zu machen, denn mehr dürfen sie nicht verdienen, weil das sonst gleich angerechnet wird. Also es ist dann so, dass sie dann sehr deprimiert sind. Das spiegelt sich dann doch schon im Betrieb wider. [...]
Ohne Gewerkschaft kriegen wir keine Gegenmacht hin und keine Tarifver- handlungen. Aber bei der Mitgliedergewinnung sollte es kein Kopfgeld geben. Ent- weder trete ich ein aus Überzeugung, aber nicht weil mein Betriebsrat dafür Geld kriegt. Unsere Solidargemeinschaft soll stärker werden. Die IG Metall-Kollegen von der Verwaltungsstelle kommen selten in unseren Betrieb, aber immer zu den Betriebsversammlungen. Und wenn der Kollege doch käme, dann könnte er auch nur zur Betriebsratssitzung kommen. Denn bei uns telefonieren die Leute ständig,
da kann man sich nicht einfach daneben stellen und anfangen zu erzählen. Ja, das ist grundsätzlich schwierig bei uns, überhaupt Gespräche zu führen, weil die nicht an der Maschine stehen, wo man sich einfach mal daneben stellen kann, die haben mehrere Kopfhörer auf und mehrere Kunden dran. [...]
Bei den Betriebsratswahlen hatten wir keine IG Metall-Liste. Um keine Gegen- Liste zu haben, haben wir gesagt, dass wir für alle offen sind. Kannst Du ja nicht anders machen, weil wir hatten sowieso schon zu tun, dass wir überhaupt Leute kriegen. Das ist schon schwierig. Jetzt sind wir 13 im Betriebsrat, davon sechs neue. Ich glaube drei, die werden wir nie zur IG Metall-Mitgliedschaft kriegen. Also, wenn man macht und tut, und nicht erreicht, das ist schon frustrierend. Aber ein bisschen haben wir schon erreicht als Betriebsrat. Also wenn ich da an unseren Urlaub denke, wir hatten ursprünglich nur 21 Tage Urlaub. Und dann haben wir es so weit gekriegt, dass wir 23 und ein Jahr später 24 Tage dann hatten. Aber letztlich muss man auch sagen, dass der Chef eigentlich froh sein kann, dass er uns hat, denn wir puffern ja viel ab, die ganzen Beschwerden und den ganzen Ärger. Also das ist schon nicht mehr normal, was da manchmal abgeht oder was die uns
da manchmal aufhalsen, wer da alles ankommt wegen irgendwelcher Sachen.“
Für die Betriebsrätin Inge ist die betriebliche Interessenvertretung nicht von gewerkschaftlichem Engagement zu trennen. Auch wenn wir nicht wissen, unter
welchen genauen Umständen sie in ihr Amt gekommen ist, deutet ihre Biographie an, dass die darin angelegten Brüche mit ihrem Engagement als gewerkschaftlich organisierte Betriebsrätin etwas zu tun haben könnten. Die ›Wiedervereinigung‹ war, wie für die Mehrheit der Ostdeutschen, offenbar auch für Inge mit einer Abwertung ihrer in der DDR erworbenen Ausbildungs- und Berufsabschlüsse verbunden, was angesichts der massiven Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit insbesondere bei Frauen dazu führte, zunehmend berufsfremden und insbesondere unter ihren fachlichen Möglichkeiten liegenden Erwerbstätigkeiten nachgehen zu müssen. Beide Erfahrungen, Arbeitslosigkeit und unterqualifizierte Tätigkeit, hat auch Inge machen müssen, und zwar in einer nahezu völlig neuen Branche, in der weder auf Seiten der Beschäftigten noch auf Seiten der Gewerkschaft auf Erfahrungen mit Strukturen betrieblicher Interessenvertretung und Tarifvereinba- rungen zurückgegriffen werden konnte. Wenn nun Inge davon spricht, man müsse schon davon „überzeugt“ sein, wenn man in die Gewerkschaft – von der sie als notwendige „Gegenmacht“ spricht – eintritt, macht es den Anschein, als ob sich für sie diese „Überzeugung“ erst im Laufe ihrer für sie völlig neuen betrieblichen Erfahrungen in der zuvor gewerkschaftsfreien Zone des Callcenters entwickelt hat. Die Notwendigkeit von „Gegenmacht“ bestätigte sich für sie offenbar, als sie merkte, wie schwierig es allein war, den Normen des Betriebsverfassungsgesetzes in ihrem Betrieb Geltung zu verschaffen. So scheint es vor allem ihrem seit Mitte der 1990er Jahre währenden persönlichen Einsatz in zähen und langsamen Schrit- ten zu verdanken sein, dass es heute in diesem Callcenter einen arbeitsfähigen Betriebsrat gibt. Sie habe sich dabei der Unterstützung ihrer IG Metall-Verwal- tungsstelle sicher sein können, merkte sie an, allerdings habe sie sich diese auch oft genug auf eigene Initiative holen müssen. Das relativ hohe kulturelle Kapital ihrer schulischen und beruflichen Bildung sowie die alltäglichen Bestätigungen ihrer Betriebsratsarbeit und ihr damit verbundenes soziales Kapital stellen – trotz der nach ihrer eigenen Wahrnehmung eher geringen Erfolge – mittlerweile auch für die lokale IG Metall in einem für sie relativ neuen betrieblichen Feld aner- kannte Ressourcen dar. Die Betriebsrätin Inge gehört zu den wenigen weiblichen Mitglieder des Inneren Kreises der Verwaltungsstelle.
Callcenter II
Fabian ist ca. 40 Jahre alt und arbeitet seit zehn Jahren in der technischen Kun- denbetreuung eines Betriebes mit angeschlossenem Callcenter. Kaum dort an- gefangen, berichtet er, sei er nach einem Jahr „angesprochen worden“, für den Betriebsrat zu kandidieren. Er sei daraufhin über eine offene Wahlliste – „reine
Persönlichkeitswahl“, betont er – in den 13-köpfigen Betriebsrat gewählt worden und wurde ein weiteres Jahr später freigestellter Betriebsrat. Fabian hat nach sei- nem Abitur Fernmeldetechniker gelernt, auch hat er vier Semester Elektrotechnik studiert, das Studium jedoch zu Gunsten des „Jobs“ im Callcenter abgebrochen. Er ist Mitglied der IG Metall, hat jedoch keine gewerkschaftlichen Ehrenämter, wie Mitglied der Delegiertenversammlung oder des Ortsvorstandes. Nachfolgend einige seiner Interviewaussagen:
„Wie bewahrt man seine Identität? Wenn ich hier durch den Betrieb gehe, möchte ich nicht als Funktionär wahrgenommen werden, sondern ich stehe da auch ein Stück weit mit meinem Namen. Und wenn mich die Leute ansprechen, dann sprechen sie mich nicht an als Gewerkschaftsfunktionär, sondern dann spre- chen sie mich als Betriebsrat an. Und da lege ich schon wert drauf. [...]
Da haben wir natürlich Verständnis dafür, dass die IG Metall in so einem Betrieb nicht unendliche Ressourcen reinpumpt. Wenn da nichts zurückkommt in Sachen Mitgliedsanträge, dann pendelt sich das auf so einem Niveau ein, wie wir das jetzt haben: Wir machen Aktionen miteinander, wir treffen uns regelmäßig. Aber – und das haben auch die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt – auch wenn wir hier umstrukturieren, zentralisieren und dabei Personal abbauen, führt das nicht dazu, dass die Beschäftigten sagen: ›Wo ist der Mitgliedsantrag für die IG Metall?‹ Wobei das kein Problem des Betriebsrats ist. Ob das ein Problem der IG Metall ist oder eines, das die IG Metall selbst verursacht, das könnte man vielleicht noch mal gemeinsam erörtern. [...]
Weil wir wenig Mitglieder haben, redet man [Betriebsrat und IG Metall- Hauptamtliche] wenig miteinander, weil nicht so die Anknüpfungspunke da sind. Wenn der Gewerkschaftssekretär hier in den Betrieb kommt, dann merkt er na- türlich auch relativ schnell, dass man keinen bunten Strauß hat, den man einem Mitarbeiter überreichen kann. Und der Dialog, den ich ja gerne mal führe mit den Beschäftigten, der ist relativ schnell zu Ende. Und dann spielt es auch fast keine Rolle, ob die IG Metall direkt die Mitglieder ansprechen kann, oder ob ich das als Betriebsrat tue. Als Betriebsrat bin ich noch eher für den Mitarbeiter ansprechbar, und da erkennt er einen direkten Nutzen. Da hat er die tagtägliche Wahrnehmung. Aber die IG Metall müsste die Frage beantworten können, und zwar auf einer ziemlich persönlichen Ebene: ›Was habe ich als Mitarbeiter davon, wenn ich in Eurem Verein Mitglied werde?‹ Und das ist vielleicht auch das, was ich als Betriebsrat bräuchte von der IG Metall, wenn ich einen Kollegen anspreche.“
Wenn auch aus anderen Gründen als die Betriebsrätin Inge, fällt Fabian aus dem Rahmen der bisher ›üblichen‹ Betriebsräte in der IG Metall. Und im Un-
terschied zu Inge stellt sich bei Fabian die Frage, warum er überhaupt Mitglied der IG Metall ist, da er sich primär in seiner Funktion als Betriebsrat darstellt und sich dabei mehr oder minder bewusst von der Gewerkschaft distanziert. In ›seinem‹ nicht allein auf das Callcenter beschränkten Betrieb seien etwa zehn Prozent der Beschäftigten IG Metall-Mitglieder, erwähnt er im Zusammenhang der Frage gewerkschaftlicher Mitgliedergewinnung. Für ihn sei die Ansprache der Mitarbeiter unter den Sachbearbeitern der niedrigsten Tarifgruppe am einfachs- ten. Fabian ist sich nicht ganz sicher, woran das liegt, bemerkt aber, dass es hier leichter herauszufinden sei, wer für eine Mitgliedschaft in Frage komme, so dass es auch zu mehr „Treffern“ führe. Er umschreibt die Arbeitsbedingungen dieser Gruppe nahezu ebenso distanziert wie zuvor schon die Gewerkschaften, wenn er sagt, dass die „Mitarbeiter in der Kundenbetreuung weniger das Gefühl haben, ihre eigenen Manager zu sein“. Im Vertrieb hingegen bräuchte man gar nicht erst mit der Mitgliederwerbung anfangen, dies gelte zum Teil auch für die Technik. Oft kämen die neuen Mitarbeiter direkt von der Universität, wollten Karriere machen und schätzten ihre Aussichten sehr realistisch ein. Sie hätten noch nie die Erfahrung gemacht, auf eine „Solidargemeinschaft“ angewiesen zu sein. Ihr Denken sei eher auf den unmittelbaren Nutzen gerichtet. „Selbstmanagement“ und die Vorstellung, schnell wieder einen neuen Job zu finden, spielten für sie eine zentrale Rolle. Zu seiner Betriebsratstätigkeit führt Fabian an, dass für ›seinen‹ Betrieb über Entgelttarifverträge in NRW, wo sich die Konzernzentrale befinde, entschieden werde, er mit ›seinem‹ Betriebsrat nur über Bedingungen betrieblicher Ausgestaltung des Rahmentarifvertrags, wie Schichtzulagen und –pauschalen, involviert sei. Andererseits habe er sich schon mehr oder weniger erfolgreich für den Erhalt von Arbeitsplätzen am Ort eingesetzt. Sofern „fachliche Sachen“ bzw. Betriebsbereiche, die nicht ohne weiteres ausgelagert werden können für den Betrieb am Ort hinzugewonnen werden können, unterstütze er “Outsourcing“ von weniger qualifizierten und damit leicht auszulagernden Arbeitsplätzen.
In der Beziehung zur IG Metall kritisiert Fabian, dass ein Verhältnis von „zwei Partnern, die sich nicht abhängig machen wollen“ schwierig sei. Abgese- hen davon betont er, dass er die IG Metall als „Ratgeber“ in fachlicher Hinsicht schätze, vor allem bei arbeitsrechtlichen Fragen oder auch bei Konflikten inner- halb des Betriebsrates. Er habe vor dem Hintergrund der geringen Mitgliederzahl in seinem Betrieb Verständnis dafür, dass die IGM „nicht unendlich“ Ressourcen aufwende, um den Betriebsrat zu unterstützen. Die Kooperation laufe auf einem „eingependelten Niveau“, das gegenseitige Kontakte und gelegentliche gemein- In der Beziehung zur IG Metall kritisiert Fabian, dass ein Verhältnis von „zwei Partnern, die sich nicht abhängig machen wollen“ schwierig sei. Abgese- hen davon betont er, dass er die IG Metall als „Ratgeber“ in fachlicher Hinsicht schätze, vor allem bei arbeitsrechtlichen Fragen oder auch bei Konflikten inner- halb des Betriebsrates. Er habe vor dem Hintergrund der geringen Mitgliederzahl in seinem Betrieb Verständnis dafür, dass die IGM „nicht unendlich“ Ressourcen aufwende, um den Betriebsrat zu unterstützen. Die Kooperation laufe auf einem „eingependelten Niveau“, das gegenseitige Kontakte und gelegentliche gemein-
Fabian scheint weder in die Kultur noch in die Diskurse der gewerkschaft- lichen Verwaltungsstelle eingebunden zu sein, zumal er auch nicht zu deren ›Inne- ren Kreis‹ zählt. Stattdessen vermittelt er den Eindruck, mit seiner Mitgliedschaft in der IG Metall von dieser in erster Linie und ausschließlich Dienstleistungen für seine Betriebsratstätigkeit in Anspruch nehmen zu können. Die IG Metall als eine Art ›Rechtsschutzversicherung für Betriebsräte‹ zu begreifen, könnte aus Fabians Sicht deswegen legitim sein, da diese – mit Ausnahme des fernab in NRW aus- gehandelten Tarifvertrags – den Mitarbeitern im Betrieb nichts anzubieten habe, wie er betont. Er als Betriebsrat hingegen sei dazu in der Lage und könne darüber hinaus der IG Metall sogar noch das eine oder andere Mitglied zuführen, obwohl ihm das argumentativ nicht leicht falle. Aus dieser Perspektive einer funktionalen Tauschbeziehung muss Fabian nahezu logisch davon ausgehen, dass nicht er von der Gewerkschaft abhängig ist, sondern umgekehrt, die Gewerkschaft auf ihn als Betriebsrat angewiesen ist. Somit erscheint es für ihn nur als konsequent, wenn er darauf verweist, dass die IG Metall den Beschäftigten für eine Gewerkschafts- mitgliedschaft „auf einer persönlichen Ebene“ etwas „anbieten“ müsse.
Auf den Gedanken – obwohl er den Begriff der Solidargemeinschaft im Ge- spräch erwähnt –, dass er als Mitglied zugleich auch Teil der IG Metall und als Betriebsrat auch Teil der Belegschaft sein könnte, kommt er offenbar deswegen nicht, weil er bemüht ist, seine Tätigkeiten nach dem funktionalen Schema der sozialen Rolle zu verstehen. Der sozialen Situation und dem Interaktionskontext der Belegschaft ›seines‹ Betriebs fühlt er sich in der Funktion des Betriebsrats weitgehend enthoben. Er nimmt eine vom Betriebsverfassungsgesetz relativ klar definierte Rolle wahr, in der er sich mit der Belegschaft primär darüber verbun- den fühlt, dass diese über Wahlen sicherstellen, ihn in seiner Rolle zu bestätigen. Nicht ohne Grund wird von ihm im Gespräch erwähnt, dass er seit seiner ersten Wahl, „viele Wahlen überstehen musste, aber es ist immer gut gegangen“. Wahlen überstanden zu haben, kann heißen, dass Fabian die im Delegationsakt angelegten Dimensionen der Arbeitsteilung und des sozialen Vertrauens bzw. Kapitals nicht erkennt und somit dazu neigt, weitgehend unabhängig von den Erwartungen sei- ner Wählerschaft im Sinne der „charismatischen Illusion“ auf eigene Faust die ihm zugewiesene Rolle als Betriebsrat auszufüllen sucht – schließlich, wie er im Gespräch betont, handelt es sich ja um „reine Persönlichkeitswahlen“. In dieser Lesart könnte Fabians Mitgliedschaft in der IG Metall dann auch als eine Absi- cherung gegen die Gefahr der zunehmenden Entfremdung von seiner Wähler- Auf den Gedanken – obwohl er den Begriff der Solidargemeinschaft im Ge- spräch erwähnt –, dass er als Mitglied zugleich auch Teil der IG Metall und als Betriebsrat auch Teil der Belegschaft sein könnte, kommt er offenbar deswegen nicht, weil er bemüht ist, seine Tätigkeiten nach dem funktionalen Schema der sozialen Rolle zu verstehen. Der sozialen Situation und dem Interaktionskontext der Belegschaft ›seines‹ Betriebs fühlt er sich in der Funktion des Betriebsrats weitgehend enthoben. Er nimmt eine vom Betriebsverfassungsgesetz relativ klar definierte Rolle wahr, in der er sich mit der Belegschaft primär darüber verbun- den fühlt, dass diese über Wahlen sicherstellen, ihn in seiner Rolle zu bestätigen. Nicht ohne Grund wird von ihm im Gespräch erwähnt, dass er seit seiner ersten Wahl, „viele Wahlen überstehen musste, aber es ist immer gut gegangen“. Wahlen überstanden zu haben, kann heißen, dass Fabian die im Delegationsakt angelegten Dimensionen der Arbeitsteilung und des sozialen Vertrauens bzw. Kapitals nicht erkennt und somit dazu neigt, weitgehend unabhängig von den Erwartungen sei- ner Wählerschaft im Sinne der „charismatischen Illusion“ auf eigene Faust die ihm zugewiesene Rolle als Betriebsrat auszufüllen sucht – schließlich, wie er im Gespräch betont, handelt es sich ja um „reine Persönlichkeitswahlen“. In dieser Lesart könnte Fabians Mitgliedschaft in der IG Metall dann auch als eine Absi- cherung gegen die Gefahr der zunehmenden Entfremdung von seiner Wähler-
Hightech
Die 45-jährige Britta ist freigestellte Betriebsrätin in einem ursprünglich fein- mechanischen Betrieb, der sich mittlerweile über Maschinenbau, Elektro-, In- formations- und Biotechnologie mit angeschlossener Forschungs- und Entwick- lungsabteilung zu einem sogenannten High-tech-Unternehmen entwickelt hat. Britta hat eine vergleichsweise ungewöhnliche Biographie, da sie ihre schulische Laufbahn gegen den Willen ihrer aus dem Facharbeitermilieu stammenden Eltern abgebrochen hatte, um „die Welt zu erkunden“. Über mehrere Jahre reiste sie in der Welt umher und verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit unterschiedlichen Jobs. Sie berichtet in diesem Zusammenhang von Konflikten, die sie mit ihren aus ihrem „gewerkschaftlichen Elternhaus“ gewonnenen arbeitsrechtlichen und gewerkschaftlichen Erfahrungen ganz gut überstehen konnte, sie dabei sogar die jeweiligen Kolleginnen und Kollegen sowie auch die jeweiligen Gewerkschafts- vertreter beraten konnte. Nachdem sie ihren Reisen eine kaufmännische Ausbil- dung angeschlossen und in ihrem heutigen Betrieb einen Arbeitsplatz gefunden hatte, wurde sie relativ schnell in den Betriebsrat gewählt. Sie führt das darauf zurück, dass sie mit ihrer Spontaneität und mit ihren nicht selten ungewöhnlichen Vorschlägen bei den Kolleginnen und Kollegen sowie bei Konflikten auch bei den Betriebsräten „aufgefallen“ sei. Als Mitglied der IG Metall gehört Britta zum ›In- Die 45-jährige Britta ist freigestellte Betriebsrätin in einem ursprünglich fein- mechanischen Betrieb, der sich mittlerweile über Maschinenbau, Elektro-, In- formations- und Biotechnologie mit angeschlossener Forschungs- und Entwick- lungsabteilung zu einem sogenannten High-tech-Unternehmen entwickelt hat. Britta hat eine vergleichsweise ungewöhnliche Biographie, da sie ihre schulische Laufbahn gegen den Willen ihrer aus dem Facharbeitermilieu stammenden Eltern abgebrochen hatte, um „die Welt zu erkunden“. Über mehrere Jahre reiste sie in der Welt umher und verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit unterschiedlichen Jobs. Sie berichtet in diesem Zusammenhang von Konflikten, die sie mit ihren aus ihrem „gewerkschaftlichen Elternhaus“ gewonnenen arbeitsrechtlichen und gewerkschaftlichen Erfahrungen ganz gut überstehen konnte, sie dabei sogar die jeweiligen Kolleginnen und Kollegen sowie auch die jeweiligen Gewerkschafts- vertreter beraten konnte. Nachdem sie ihren Reisen eine kaufmännische Ausbil- dung angeschlossen und in ihrem heutigen Betrieb einen Arbeitsplatz gefunden hatte, wurde sie relativ schnell in den Betriebsrat gewählt. Sie führt das darauf zurück, dass sie mit ihrer Spontaneität und mit ihren nicht selten ungewöhnlichen Vorschlägen bei den Kolleginnen und Kollegen sowie bei Konflikten auch bei den Betriebsräten „aufgefallen“ sei. Als Mitglied der IG Metall gehört Britta zum ›In-
Britta empört sich insbesondere über die Zunahme von Leiharbeit, ein für sie „ganz übles Thema“. Ignorieren könne man es nicht mehr, wenn es schon Betriebe gebe, wo das Verhältnis bei 200 Leiharbeitern zu 800 Festangestellten liege. Von manchen werde Leiharbeit als Schwäche des Betriebsrats ausgelegt und führe zu einer vorwurfsvollen Haltung nach dem Motto: „Kannst du das nicht verhindern?“ Dazu gebe es in ihrem Betrieb, aber auch innerhalb des Betriebsrats, unterschiedliche Positionen. Manche, so Britta, stehen sogar auf der Seite der Geschäftsleitung, wenn sie sagen: „Die gehören ja eh nicht dazu“ . Aber es gebe auch Festangestellte, die sich mit den Leiharbeitern solidarisch zeigten. So sei es vorgekommen, dass, nachdem Leiharbeiter nicht weiterbeschäftigt worden sind, die Kollegen bei ihr „auf der Matte“ standen.
Britta betont, dass sie den „toleranten“ Stil des Betriebsratsvorsitzenden ihres Betriebs für angemessen hält, da „die autoritäre Art“ bei den meisten Mitarbeitern schlecht ankomme. Sie bedauert, dass eine stärkere Beteiligung der Beschäftigten an den Entscheidungen des Betriebsrats aus Zeit- und Kostengründen nicht zu- stande komme. Das liege auch an jenen langjährigen Betriebsräten, die meinen, es müsse alles so bleiben wie es schon immer war. Diese Kollegen bestätigten das „angestaubte Profil der IG Metall“, das verhindere, in die Gewerkschaft ein- zutreten. So habe sie mit anderen verhindern können, dass Flugblätter verteilt werden, die im Stil der BILD-Zeitung verfasst waren – „Jetzt geht‹s los in der Bude“ . Diese Mentalität einiger Kollegen kenne Britta aus ihrer Wanderzeit. Sie sei schon damals „geschockt“ gewesen, dass viele ihr Wissen aus BILD, RTL und SAT 1 bezögen. Auch bezweifle sie, dass die von diesen Kollegen zum Ausdruck gebrachte Selbstverständlichkeit gewerkschaftlicher Mitgliedschaft – „Es gehört sich halt so“ – auf die Dauer tragfähig sei. Angesichts schwindender gewerkschaft- licher Familientraditionen, insbesondere bei den hochqualifizierten Beschäftigten, vermisse sie die „Überzeugung“. Die Art der Präsentation hingegen, wie sie ins- besondere von „bestimmten Gewerblichen“ gepflegt werde, schrecke viele andere Beschäftigte im Betrieb ab. Ihre Vorstellung der Mitgliederwerbung geht dahin, einen IG Metall-Werbefilm zu produzieren, der ein modernes Bild der Gewerk- schaft zeichne, ähnlich den DGB-Kinospots von vor ein paar Jahren. Aber selbst diese seien nach längeren Recherchen für sie nicht mehr zu beschaffen gewesen und scheinen verschollen zu sein. Mit einer solchen Werbekampagne hätte man es im Betrieb leichter. Zwar gebe es in den Vorständen Konzepte und Initiativen, aber die kämen im Betrieb nicht an. Zudem seien die Betriebsräte mit ihrer Arbeit vor
Ort dermaßen beschäftigt, dass ihnen der Überblick fehle. Das Ergebnis sei, dass sich die Verlautbarungen des Vorstandes und die realen Verhältnisse im Betrieb immer weiter voneinander entfernten. Zuletzt betont Britta, dass ihr Betrieb „kein 0815-Betrieb“ sei. So erschwere die Reinraum-Produktion im Biotech-Bereich den persönlichen Kontakt zueinander, da hier bei der Arbeit nicht miteinander geredet werden könne, wie an einer Werkbank. Es gebe noch zu viele Kollegen in der lokalen IG Metall, die davon noch nie gehört hätten.
Britta, die offensichtlich schon in ihrer Jugend aus der für sie vorgesehenen Laufbahn ausgebrochen war, scheint sich ihre Perspektive der Außenseiterin, oder besser: der Quereinsteigerin, auch als Betriebsrätin erhalten zu haben und den- noch in ihrer Verwaltungsstelle der IG Metall einen akzeptierten Platz gefunden zu haben. Sie hat sich offenbar mit dem, was für sie mehr oder minder vorge- zeichnet gewesen war, nie zufrieden gegeben und für sich die Chancen einer freieren persönlichen Entwicklung in Gestalt von Kompetenzerweiterungen und auch von gesellschaftlich-politischen Eigeninitiativen wahrgenommen, wenn sie darauf hinweist, schon während ihrer ›Welterkundungen‹ politisch engagiert ge- wesen zu sein. Britta hat sich über ihre Herkunftskultur hinaus immer wieder erweiterte Handlungsspielräume erobert und sich in für sie neue soziale Felder begeben. Wie in der Betriebsratstätigkeit agiert sie in diesen sozialen Feldern mit ihren spezifischen persönlichen Ressourcen, sei es mit ihrer ausgeprägten sozialen Sensibilität, mit ihrer selbstbewussten Kommunikationsfähigkeit oder mit ihrer relativen Sicherheit, sich ›zwischen den Stühlen‹ bewegen zu können. Es handelt sich dabei um ihr ›Kapital‹, das weitgehend quer zu den üblichen Voraussetzungen und Bedingungen jeweiliger Feldzugehörigkeit liegt und dazu führt, wie sie selbst bemerkt, dass sie damit „auffällt“. Sie fällt auf, weil sie aus ihrer ›anderen‹ Per- spektive Sachverhalte wahrnimmt und klar und deutlich thematisiert. Sie sorgt dafür, dass deren Relevanz für die gewerkschaftliche Betriebsratsarbeit in der üblichen Routine nicht unbeachtet bleibt. In einem nach wie vor weitgehend von Männern dominierten Feld hat Britta darüber hinaus den – wenn auch zweifel- haften – Vorteil, von diesen nicht selten unterschätzt zu werden. Damit stehen ihr zusätzliche Handlungsspielräume zur Verfügung, in denen sie ihre Kompetenzen ausspielen kann. Allein ihr scheint es in dieser Situation möglich zu sein, auf diese Art und Weise für das Aufbrechen des Gewohnten bzw. der Doxa betrieblicher Gewerkschaftsarbeit sorgen zu können. Denn sie vermittelt mit ihrem Habitus nicht den Eindruck, aus einer fremden Milieukultur von oben herab zu agieren. Vor allem kann sie in jenen betrieblichen Bereichen Erfolge vorweisen, in denen sich die Wahrnehmung und Praxis gewerkschaftlicher Doxa bisher immer noch als Britta, die offensichtlich schon in ihrer Jugend aus der für sie vorgesehenen Laufbahn ausgebrochen war, scheint sich ihre Perspektive der Außenseiterin, oder besser: der Quereinsteigerin, auch als Betriebsrätin erhalten zu haben und den- noch in ihrer Verwaltungsstelle der IG Metall einen akzeptierten Platz gefunden zu haben. Sie hat sich offenbar mit dem, was für sie mehr oder minder vorge- zeichnet gewesen war, nie zufrieden gegeben und für sich die Chancen einer freieren persönlichen Entwicklung in Gestalt von Kompetenzerweiterungen und auch von gesellschaftlich-politischen Eigeninitiativen wahrgenommen, wenn sie darauf hinweist, schon während ihrer ›Welterkundungen‹ politisch engagiert ge- wesen zu sein. Britta hat sich über ihre Herkunftskultur hinaus immer wieder erweiterte Handlungsspielräume erobert und sich in für sie neue soziale Felder begeben. Wie in der Betriebsratstätigkeit agiert sie in diesen sozialen Feldern mit ihren spezifischen persönlichen Ressourcen, sei es mit ihrer ausgeprägten sozialen Sensibilität, mit ihrer selbstbewussten Kommunikationsfähigkeit oder mit ihrer relativen Sicherheit, sich ›zwischen den Stühlen‹ bewegen zu können. Es handelt sich dabei um ihr ›Kapital‹, das weitgehend quer zu den üblichen Voraussetzungen und Bedingungen jeweiliger Feldzugehörigkeit liegt und dazu führt, wie sie selbst bemerkt, dass sie damit „auffällt“. Sie fällt auf, weil sie aus ihrer ›anderen‹ Per- spektive Sachverhalte wahrnimmt und klar und deutlich thematisiert. Sie sorgt dafür, dass deren Relevanz für die gewerkschaftliche Betriebsratsarbeit in der üblichen Routine nicht unbeachtet bleibt. In einem nach wie vor weitgehend von Männern dominierten Feld hat Britta darüber hinaus den – wenn auch zweifel- haften – Vorteil, von diesen nicht selten unterschätzt zu werden. Damit stehen ihr zusätzliche Handlungsspielräume zur Verfügung, in denen sie ihre Kompetenzen ausspielen kann. Allein ihr scheint es in dieser Situation möglich zu sein, auf diese Art und Weise für das Aufbrechen des Gewohnten bzw. der Doxa betrieblicher Gewerkschaftsarbeit sorgen zu können. Denn sie vermittelt mit ihrem Habitus nicht den Eindruck, aus einer fremden Milieukultur von oben herab zu agieren. Vor allem kann sie in jenen betrieblichen Bereichen Erfolge vorweisen, in denen sich die Wahrnehmung und Praxis gewerkschaftlicher Doxa bisher immer noch als